OFFENER BRIEF aus dem Jahr 1999/2000
an die Verwandten von meiner Ehefrau Susanne Seifert
dieser Brief ist heute (am Tag der Überarbeitung Juni 2012 )
12 Jahre später, so aktuell wie eh und je

Die Vorkommnisse der letzten Zeit haben mich dazu bewegt, diesen Offenen Brief an die Verwandten von Susanne zu schreiben. Warum einen Offenen Brief ? Warum an die Verwandten ? Wen meine ich denn nun ganz genau ? Diese Fragen werden sich die Leser stellen. Ich wähle diese Form der Ansprache, da ich in persönlichen Gesprächen keinen Sinn mehr sehe. Keinen Sinn deshalb, weil mir die Erfahrung gezeigt hat, dass eine sachliche Diskussion nicht möglich ist. Diskussion bedeutet, dass man durchaus verschiedene Standpunkte und Meinungen vertreten kann. Ziel ist aber immer, einen Konsens zu finden. Dabei müssen die Grundpositionen nicht aufgegeben werden. Wenn diese Bereitschaft oder Erkenntnis nicht vorhanden ist, ist es sinnlos miteinander zu sprechen, da man tatsächlich nicht miteinander redet, sondern nur streitet. Bei einem Streit beharrt jeder nur auf seiner Position und ist nicht bereit auch nur ein Stückchen nachzugeben. Wer streitet, will verletzen und am Ende als Sieger über den anderen da stehen. Da ich nicht streiten will, wähle ich diese Form der Ansprache. Jetzt mag der oder die eine denken: Das ist ja feige ! Ich aber sage: Das ist nicht feige, sondern klug !!! Denn nur so ist es möglich, zu Wort zu kommen, wenn der andere nur streiten will und nicht zuhört. "Zuhören", das ist gar nicht so einfach. Ihr tätet gut daran, wenn Ihr das versuchen würdet. Hättet Ihr zugehört, dann hättet Ihr auch verstanden, dass Susanne Eure Nähe sucht. Mit all ihrem Handeln will sie doch nur sagen: "Hier bin ich und ich brauche Eure Hilfe, Verständnis und Zuwendung, denn ich bin sehr krank. Auch wenn wir früher unsere Differenzen hatten, will ich Eure Nähe, denn vielleicht ist es dafür bald zu spät." Susanne sucht also ihre Familie und schreit um Hilfe, aber sie bekommt sie nicht! Familie bedeutet Gemeinschaft, Schutz und für einander da sein. Wer gehört zur Familie von Susanne: die Eltern, die Schwestern, die Onkels, die Tanten, die Cousinen, die Cousins oder vielleicht der Ehemann, die Schwiegereltern, die Verwandten des Ehemannes, was ist mit dem Schwager, den Freunden, wer ist die Familie ? Susannes Familie besteht aus allen, die zu ihr stehen, sie unterstützen, für sie da sind, wenn sie Hilfe braucht, sie motivieren, den Kampf gegen den Krebs nicht aufzugeben, sie trösten und sie lieben. Susanne hat eine Familie, die ihr all das eben Geschilderte gibt. Nicht zur Familie von Susanne gehören: Gleichgültige, Ignoranten, Egoisten, Gewissenlose, Heuchler, Feiglinge und Herzlose. Jeder der oben genannten (Eltern, Geschwister, Ehemann, etc.) möge bitte selbst prüfen, wie und wo er sich einordnet. Ich habe Susanne geraten, alles von sich fern zu halten, was ihrem schweren und harten Kampf gegen den Krebs abträglich ist. Sie soll nur noch das machen, was gut für sie ist. Die Entscheidung und Akzeptanz des Rückzuges aus der Arbeitswelt war neben dem Ja zu Operationen und Chemotherapien ein weiterer bedeutender Schritt im neuen Leben von Susanne. Susanne macht etwas aus ihrem nicht einfachen Leben ( möchte jemand tauschen ? ). Sie ist äußerst kreativ und schafft es mit eiserner Disziplin ihren Körper für sich selbst und für den nächsten bevorstehenden Kampf gegen die Krankheit in Form zu bringen. Ich bewundere ihre Kraft und ihren Durchhaltewillen. Andere können das nicht! Aber sie könnten es lernen, so wie ich. Wenn man sich aber selbst im Wege steht, funktioniert das natürlich nicht. Meistens ist man immer mit sich selbst beschäftigt: "Was geht mich das an ? Habe ich überhaupt etwas damit zu tun ? Konkurrenzdenken ! Neid ! Habe ich nicht mehr davon, wenn ich statt dessen dies oder das mache ? Lästig – jetzt muss ich wieder ..." Susanne darf sagen: Ich mache dies oder das, weil ich es will ! Alle anderen, die sich ihr zugehörig fühlen, müssen ihr Verhalten an Susanne ausrichten, auch wenn dies sehr, sehr schwer ist. Ich weiß, wovon ich rede. Die Menschen, die zu ihr stehen, geben ihr Kraft und tragen sie bei dem, was sie aushalten muss, das was wir Gesunden in keinster weise nachempfinden können. Alle anderen stehen ihr nur im Weg und kosten sie Kraft, die sie zum Überleben mit Krebs benötigt.

Carsten Seifert

 

 

 

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